Wer kann, der muss nicht. Warum ein Helfersyndrom krank machen kann.
Viele überholte Traditionen führen zu einem Helfersyndrom, ein Erbe, das wir ausschlagen sollten.
Wir kokettieren manchmal augenzwinkernd: „Ich habe ein Helfersyndrom“. Dabei kann sich die Gewohnheit „gerne zu helfen“ zu einem sehr ungesunden und belastenden Bumerang entwickeln.
Die Tradition „Wer kann, der muss“ war lange Zeit ein Antrieb für individuelle Potenzialentfaltung. Ebenso ist der Spruch ein gesellschaftlicher Antreiber im Bereich der Nächstenliebe. Aber was passiert, wenn dieser „Drang zum Helfen um jeden Preis“ entgleist? Ein Helfersyndrom kann sich entwickeln, eine vermeintlich edle Eigenschaft, die jedoch gefährliche Konsequenzen für diejenigen haben kann, die ständig danach streben, anderen zu helfen.
Warum gibt es immer mehr Menschen mit Helfersyndrom?
Zunehmende Komplexität und Herausforderungen in der Gesellschaft: Es werden immer mehr Menschen benötigt, die bereit sind, anderen zu helfen. Gesellschaftliche Probleme wie Armut, Ungleichheit, psychische Gesundheitsprobleme und Umweltfragen erfordern verstärkte Unterstützung.
Wachsende Sensibilisierung für soziale Themen: Durch die verstärkte Aufmerksamkeit für soziale Themen und die Sensibilisierung für verschiedene gesellschaftliche Herausforderungen werden Menschen motiviert, sich aktiv einzubringen und anderen zu helfen.
Das sind Gründe warum die Auseinandersetzung mit dem Helfersyndrom wichtig ist, da sie für die eigene Gesundheit und das Wohlbefinden entscheidend ist.
Der Drang zum Helfen
Die Idee „Wer kann, der muss“ hat oft zur Entstehung eines Helfersyndroms geführt – einer Überzeugung, dass man dazu verpflichtet ist, anderen in jeder erdenklichen Situation beizustehen. Dieser Drang zum Helfen kann jedoch krank machen, zu Selbstvernachlässigung, Überlastung und sogar zu psychischen Problemen führen.
Selbstlosigkeit vs. Selbstverleugnung
Ein Helfersyndrom wird oft mit Selbstlosigkeit gleichgesetzt, doch es ist wichtig zu erkennen, dass Selbstlosigkeit nicht Selbstverleugnung bedeutet. Doch häufig verleugnen Menschen im Eifer des Helfersyndroms die eigenen Bedürfnisse. Die permanente Aufopferung der eigenen Bedürfnisse für andere kann zu Erschöpfung und einem Gefühl der Überforderung führen, was langfristig die Fähigkeit, wirksam zu helfen, beeinträchtigen kann. Es ist wichtig auch an sich selbst zu denken. Wie ein Auto – erst tanken – dann fahren. Wir können nur dann ein Geschenk für die Welt sein, wenn wir in gutem Zustand sind.
Warum Egoismus okay ist
Ist es nicht egoistisch, uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen?
Im Flugzeug heißt es: »Legen Sie zuerst Ihre Sauerstoffmaske an, bevor Sie versuchen, der Person neben Ihnen zu helfen.« Das ist nicht egoistisch, sondern klug. Wir können nämlich nur helfen, wenn wir selbst genügend Sauerstoff haben. Und das gilt auch im Alltag – besonders wenn die Wellen hochschlagen. Dann können wir selbst unser Fels in der Brandung sein. Sich wie ein Freund sich selbst zuzuwenden bedeutet, Verantwortung für sich zu übernehmen und das Ruder fest in der Hand zu halten.
Wenn wir unser Leben als unstimmig empfinden, Unsicherheit fühlen, schnell gereizt sind und lospoltern, weinerlich sind und jammern oder körperliche Zipperlein haben und verspannt sind, dann ist die Zeit reif, zu schauen, was genau uns zu schaffen macht.
Die Gefahr der Erschöpfung im Helfersyndrom
Ein Helfersyndrom geht oft mit einem ungesunden Maß an Verantwortung einher, was zu körperlicher und emotionaler Erschöpfung führen kann. Die kontinuierliche Ignorierung der eigenen Grenzen kann zu einem Teufelskreis führen, in dem die Fähigkeit, anderen zu helfen, zunehmend beeinträchtigt wird.
Stille genießen
Wir rennen oft immer weiter und wissen gar nicht mehr so richtig wohin. Anhalten ist ein kluger Plan, um erst einmal Dinge abzuschließen statt immer weitere neue Projekte zu verfolgen. Stille schließt unsere inneren Vorgänge ab, egal, wie weit wir gekommen sind und sie schafft Platz für das Wichtige in einer Situation. Unser Gehirn parkt unsere Erlebnisse wie Waggons auf einem Bahnhof ein. So bekommen Sorgen einen guten Platz und werden nicht rund um die Uhr bearbeitet – was uns, wie wir alle wissen, sowieso nicht weiterbringt. Schon gar nicht die Sorgen anderer, die wir noch zusätzlich zu unseren machen. Das Umschalten von einer Sache auf die andere fällt leichter, wenn wir mal still werden. Reize werden verarbeitet. Wir spüren Konzentration – Fokus – und unsere Erschöpfung wandelt sich in mentale Stärke und Leistung. Das sind die Tage, an denen wir glauben, auf einem Supermann/-frau-Heft geschlafen zu haben. Und das könnten wir öfter haben, wenn wir aufhören würden zu funktionieren und durch den lauten Alltag zu hetzen.
Grenzen setzen und Selbstpflege
Um das Helfersyndrom zu überwinden, ist es entscheidend, klare Grenzen zu setzen und auf Selbstpflege zu achten. Die Akzeptanz, dass es nicht möglich ist, immer und überall zu helfen, ist ein wichtiger Schritt zur Erhaltung der eigenen mentalen und physischen Gesundheit.
Sich auf das eigene »innere Spiel« zu konzentrieren, statt in den Vergleich mit anderen zu gehen, kann ein Weg zum inneren Gleichgewicht sein. Manchmal bieten wir ungefragt Hilfe an. Wir machen dann einfach. „Wer kann der muss“, wie wir es gelernt haben.
Abzuwarten, bis jemand wirklich Unterstützung braucht, sie möchte und auch konkret darum bittet – das ist ein positiver und Grenzen wahrender Umgang mit unseren Mitmenschen. Damit jeder eine eigene passende Lösung finden kann und wir nicht proaktiv für andere ausbrennen, die am Ende noch nicht mal etwas davon haben.
Niemand dankt mir meine Hilfe
Denn auch wir haben bei genauer Betrachtung nichts davon. Was wir uns erhoffen, bleibt aus. Selbst ein Geschenk, für das wir nichts im Gegenzug erwarten, bringt unser Gegenüber in eine Schuld. Und wenn wir jemandem etwas schuldig sind, fühlen wir uns nicht gut. Wir brauchen ein Geben und Nehmen im Gleichgewicht.
Werden wir um Rat gebeten und versuchen dann, lediglich eine Einschätzung aus eigener Sicht zu formulieren, ist das günstiger für uns und unsere Beziehungen. Dann kann der andere abwägen, ob etwas Passendes dabei ist. Er kann selbst auswählen, so wie wir es im Grunde ja auch für uns haben wollen.
Wenn wir niemanden vor den Kopf stoßen wollen, müssen wir bei uns bleiben und klare Grenzen setzen. Vielleicht machen wir uns damit nicht unbedingt beliebt, aber es gilt eh der Satz: »Allen recht getan ist eine Kunst, die niemand kann.« Wenn wir bei uns und unseren Bedürfnissen bleiben, können wir auch das aushalten.
Die Kunst des „Nein“-Sagens
Ein Helfersyndrom kann oft durch die Unfähigkeit, „Nein“ zu sagen, verstärkt werden. Es ist wichtig zu lernen, die eigenen Kapazitäten realistisch einzuschätzen und in der Lage zu sein, Hilfe abzulehnen, wenn es notwendig ist. Dies ermöglicht es, Energie für diejenigen Situationen zu bewahren, in denen Hilfe am effektivsten ist.
Abgrenzung ist nicht immer leicht. Das hat manchmal auch mit unserer inneren Erlaubnis zu tun. Wenn wir für uns sorgen und unser Leben genießen, haben viele Menschen schon ein schlechtes Gewissen. Was erlauben wir uns? Erzählen wir jemandem, wie gut es uns geht und wie glücklich wir sind, ja dann ernten wir auch schon mal Missgunst bei anderen. Sich gesunde Freiräume zu schaffen bedeutet, dass wir auch etwas für uns und nicht nur für andere tun. Wir nehmen uns auch ein Stück vom Kuchen. Die Frage, die wir uns stellen, lautet sehr häufig: entweder ich oder die anderen. Diese Frage können wir von Moment zu Moment neu entscheiden. Wir dürfen auch aushalten und abwarten, bis sich das unangenehme Gefühl des Neinsagens verflüchtigt hat.
Helfersyndrom: Geben ist seliger denn Nehmen?
Uns wird schon in der Bibel gelehrt, dass es prima ist, wenn wir spenden und abgeben. Wer etwas für sich nimmt oder es ablehnt zu spenden, wird schnell in die »Egoismus-Ecke« gesteckt. Dabei kann beides auch ein Zeichen für eigene Klarheit sein, die gar nicht so verkehrt ist.
Wenn wir häufiger mal an uns denken, auch das steht in der Bibel (Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung © 2017 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart) vgl. Johan- nes 10, 10:
damit sie das Leben haben und volle Genüge!
Das bedeutet, auch wir sollen das Leben haben, in Hülle und Fülle. Wir dürfen nehmen, müssen nicht immer nur geben und für andere da sein. Dann sind wir in gutem Zustand, auch wenn der Wind mal von vorne kommt. Wenn es uns gut geht, können wir auch für andere, ob nun in der Familie, im Job, für Freunde oder die Welt, ein Geschenk sein.
Es ist gut, immer wieder fragend zu überprüfen, was wir wollen. Und erst dann sagen wir JA oder NEIN.
Will ich das?
Muss ich das?
Soll ich das?
Kann ich das?
Darf ich das?
Sich selbst lieben – kann man trainieren
Wie wir mit uns selbst umgehen, ist etwas, das wir lernen können. Uns selbst wie ein verängstigtes Häschen anzusehen und zu fragen: Was hast du? Was sorgt dich? Was brauchst du gerade am nötigsten? Sich selbst freundlich zu unterstützen ist sehr viel hilfreicher als uns zuzüglich zu allem Übel selbst in den Allerwertesten zu treten.
Die Rolle der Selbstreflexion bei Helfersyndrom
Die Überholung von „Wer kann, der muss“ erfordert auch eine tiefere Selbstreflexion. Warum fühlt man sich verpflichtet, anderen immer und überall zu helfen? Die Auseinandersetzung mit den eigenen Motiven kann helfen, das Helfersyndrom zu verstehen und Wege zu finden, um gesündere Formen der Unterstützung zu bieten. Wir können herausfinden warum es für uns so wichtig ist zu helfen und was uns so stark motiviert, dass wir selbst auf der Strecke bleiben. Es hat einen guten Grund. Kennen wir den Grund, können wir den Antreiber auch gesünder einsetzen und auch selbst wieder mehr vom Leben haben.
Passt mein Leben zu mir?
Das Helfersyndrom, entstanden aus der Tradition „Wer kann, der muss“, erfordert eine kritische Überprüfung und Anpassung unserer Denkweise. Es ist wichtig zu erkennen, dass selbstlose Hilfeleistung nicht bedeuten sollte, die eigenen Grenzen zu ignorieren. Durch die bewusste Pflege der eigenen Bedürfnisse und die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen, kann man eine effektivere und nachhaltigere Unterstützung für andere bieten. Die Überholung von „Wer kann, der muss“ sollte somit auch eine Auseinandersetzung mit dem Helfersyndrom einschließen, um eine gesunde Balance zwischen Hilfe und Selbstfürsorge zu finden.
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